NELLY
Ein Leben nach dem Versuchslabor, die Chance auf ein neues Leben
von Melanie Scheel
Ein großer Raum. Sie sitzen auf Beton oder Kacheln. Meistens zu mehreren, zwei, drei in einem Abteil. Manche, durch die Enge, Stress und Angst aggressiv geworden, auch allein. Gittertüre sind der einzige Ausblick zu einer Welt, die doch nur den Blick auf einen weiteren kahlen, sterilen Innenraum zulässt. Hier sitzen sie – manche nur wenige Tage, um dann nach Versuchen an ihrem Körper getötet zu werden, manche über Jahre, bis sie „ausgedient“ haben. Dann werde sie entsorgt, getötet. Kein Tier verlässt das Versuchslabor lebend. Das Leben von Versuchshunden, meistens Beaglen, ist nur Warten, 24 Stunden ohne Beschäftigung, ohne Laufen, Schnüffeln, ohne Zuwendung und Liebe.
Heute ist für einige von ihnen der letzte Tag. Sie haben zum angeblichen Wohl der Menschen Versuche erleiden müssen. Jetzt sind sie nicht mehr zu gebrauchen, verursachen nur Kosten und müssen weg. Die Gittertür geht auf, einige kauern sich angstvoll in die Ecke; andere versuchen zu flüchten. Vergebens! Am Nackenfell gepackt, nur eine stützende Hand unter dem Bauch, werden sie heraus getragen aus der scheinbaren Sicherheit ihres Abteils. Die Gittertür schließt sich klirrend hinter ihnen; der letzte Gang beginnt. Nelly ist eine von ihnen. Doch heute ist alles anders. Für diese wenigen endet das Leben nicht mit der Giftspritze, ist die Mülltonne nicht das Ende ihres kleinen Lebens.
Tageslicht empfängt sie, Luft, die Novemberkälte und neue Stimmen, Menschen. Nelly wird in ein Auto gepackt, bekommt ein Geschirr übergestreift, die Heckklappe schließt sich hinter ihr und zwei anderen und es geht der Freiheit entgegen. Von Tierschützern übernommen, soll Nelly nach Jahren der Qual noch ein normales Hundeleben führen dürfen, in einer Familie, die ihr Liebe und Geborgenheit gibt.
Bevor Nelly aus dem Labor übernommen werden konnte, musste eine Menge Arbeit erledigt werden. Am Anfang stand der Telefonanruf aus einem Labor und die Anfrage, ob ich mehrere Hunde übernehmen wolle bzw. könne.
Sonst müsste man sie töten.
Natürlich konnte ich! Nur wenige Zeit brauche ich vorher. Also erst in zwei Wochen kann ich die Kleinen abholen. Zu allererst müssen möglichst endgültige Stellen, gute Familien für diese, durch die Versuche verhaltensgestörten Tiere gefunden werden.
Da meinen privaten Freundeskreis schon die nackte Panik ergreift, wenn ich nur das Wort „Hund“ verlauten lasse, und die meisten sowieso ihre Tiere von mir haben, ist hier kein Platz mehr frei. Es müssen Anzeigen in Zeitungen geschaltet werden. Viele Menschen, die daraufhin anrufen, möchten nur billig an einen Rassehund kommen. Nach fast einem Jahrzehnt ehrenamtlicher Tierschutzarbeit, habe ich etwas Übung, hier auszusortieren.
Andere Anrufer ergreifen entsetzt die Flucht, wenn sie hören, dass es sich um verhaltensgestörte Hunde handelt. Um Hunde, die fünf oder mehr Jahre in ausschließlich Zwingerhaltung gelebt haben. Die keine Umwelt kennen, kein Blatt, dass sich im Wind bewegt, kein Auto, keine schreienden, spielenden Kinder. Sie sind schreckhaft, ängstlich und natürlich nicht stubenrein. Es sind erwachsene Welpen mit schlechten Erfahrungen.
All dies muss ich den Anrufern, die nach einem Hund fragen, auseinandersetzen. Aber ich kann auch Gutes berichten: Diese missbrauchten Geschöpfe wollen trotzdem leben. Sie wollen sich wieder dem Menschen öffnen und anschließen. Sie sind neugierig und aufnahmefähig und fangen mit etwa drei Monaten an, sich an „ihre“ Menschen anzuschließen, Vertrauen zu fassen. Eine erstaunlich kurze Zeit für das, was sie hinter sich haben. Mit sechs Monaten haben fast alle meiner Hundehalter dann einen normalen Hund mit einigen Eigenheiten. Um die Eingewöhnung in ein normales Hundeleben zu erleichtern, betreue ich zusammen mit anderen Tierschützern „meine“ Hundefamilien. Sie sollen nicht mit Problemen allein dastehen und verzweifeln.
Nach dem ersten Vorgespräch sollen alle Anrufer eine Nacht über den Entschluss, einen solchen Hund aufzunehmen, schlafen. Wenn man dann noch entschlossen ist, diese Aufgabe auf sich zu nehmen, machen wir einen Vorbesuch bei unseren zukünftigen Hundebesitzern, oder diese sehen sich einfach einen Beagle an, der schon in eine Familie vermittelt ist. Die meisten sind überrascht, wie schnell die Hunde zu einem normalen Leben zurückfinden.
Wenn dann genügend Familien gefunden sind, gilt es, den Tag der „Befreiung“ zu organisieren. Autos müssen her, in denen die Hunde transportiert werden können. Die Termine müssen abgestimmt werden; die Zeiten, an denen alle die Hunde entgegen nehmen können und die Fahrtrouten. Erst jetzt kann ich Nelly und die anderen abholen.
Dieser letzte Gang im Labor ist der Anfang von Tagen des Dauerstresses für die kleinen Kerlchen. Autofahrt, neue Menschen, Gerüche, Geräusche. Nelly ist überfordert bei so viel Neuem. Sie hat Angst, ist orientierungslos und müde. Trotzdem traut sie sich nicht, sich hinzulegen. Man kann ja nie wissen…! Schließlich schläft sie im Sitzen ein, schreckt wieder auf, als sie zur Seite kippt, döst wieder ein und schreckt wieder hoch. Das alles noch während ich mit ihrer neuen Familie einen Tierschutzvertrag abschließe, die Schutzgebühr in Form einer Spende kassiere und möglichst viele Tipps für die nächste Zeit gebe. Vor allem darf Nelly nie die Möglichkeit bekommen, zu entlaufen. Sie wäre dann völlig orientierungslos und würde wahrscheinlich vor das nächste Auto laufen und getötet werden. In unendlicher Panik würde sie keine Rufe hören und nur noch weglaufen. Dann lasse ich Nelly zurück. Ein Häufchen Elend, das vor lauter Erschöpfung beschlossen hat, dass sowieso alles egal ist, und jetzt im Liegen schläft. Ungepflegt, stinkend und noch im Schlaf leicht zitternd. Aber ich muss weiter. Noch eine Familie wartet auf ihr neues Familienmitglied und ein dritter Hund muss erst in eine Pflegestelle, weil sich auf die Schnelle kein endgültiges Zuhause gefunden hat. Die Kosten, die hier entstehen, werden durch das Geld der Schutzgebühren gedeckt. Aber auch anderen Tieren wird damit geholfen:
Pferden, die im Tierversuch jahrelang leiden mußten; Katzen, die ein elendiges Leben auf der Straße führen müssen etc. Man könnte mehr tun, wenn sich mehr Menschen der gequälten Kreaturen erbarmen würden und mehr Geld vorhanden wäre.
Nellys weiteres Leben verläuft „normal“. Beim Telefonat am nächsten Tag können ihre Hundeeltern von ersten vorsichtigen Schritten in und außerhalb der Wohnung berichten. Und die Verdauung funktioniert auch, wie man auf dem Teppich sah…. Nach einer Woche hat sie sich schon ganz gut an viele Geräusche gewöhnt. Sie ist fast stubenrein, nachdem Herrchen und Frauchen konsequent mit ihr trainiert haben und sie wedelt sogar schon zaghaft, wenn man sie anspricht. Als ich nach vier Wochen einen ersten Nachbesuch mache, habe ich einen ganz anderen Hund vor mir. Das Fellchen glänzt, die Augen sind wesentlich lebhafter und sie schreckt nicht mehr bei jedem Geräusch zusammen. Nur mir gegenüber ist sie misstrauisch. Die kenne ich doch irgend woher? Mal Abstand halten. Nach einem halben Jahr ist Nelly ein fast normaler Hund. In Parks und auf den Feldern außerhalb von Berlin kann sie sogar ohne Leine laufen. Sie spielt mit anderen Hunden und hat schon ein erstes Mal gebellt. Ein Zeichen wachsenden Selbstbewusstseins:“Hallo, hier bin ich! Ich muss mich nicht mehr verstecken!“, soll es wohl heißen.
Nicht nur für Nelly hat es sich gelohnt. Auch für mich und die anderen Tierschützer, die ihre Freizeit opfern, hat es sich gelohnt. Obwohl wir sehr viel Zeit und Mühe hatten, für Nelly und die anderen eine passende Familie zu finden, ist die Lebenslust dieses kleinen Persönchens die schönste Belohnung und ein Ansporn, auch weitere Tiere zu übernehmen. Diese Tierschutzaktion wird nur von Privatleuten organisiert und nur von wenigen Vereinen, so der „Stimme der Tiere e.V.“ unterstützt. Ein ganz herzliches Dankeschön an dieser Stelle an alle Helferinnen und Familien, die die Mühe auf sich nehmen, aber auch das Geschenk empfangen, das diese Hunde machen. Und natürlich die Hoffnung auf ein langes, glückliches Leben für die kleine Nelly und alle anderen. Ich werde sie auch weiterhin im Auge behalten und ihre Entwicklung verfolgen können.